Kultur allein Zuhaus'

Wann wart ihr das letzte Mal auf einem Konzert, im Kabarett, im Theater, in einem Club? Vermisst ihr es auch? Seit Beginn der Corona-Pandemie in Österreich wurden die meisten  Veranstaltungen bis auf weiteres verboten. Der Alltag wurde trister, dem Leben fehlte plötzlich  Farbe. Nicht nur für die Zuschauer war das Veranstaltungsverbot gleichzeitig ein Verzicht auf  Kulturkonsum. Für viele Kulturschaffende bedeutete diese neue Regelung eine Einschränkung ihres kreativen Daseins, ihrer Kunst und letztendlich ihrer finanziellen Sicherheit. Wir haben  uns aus diesem Grund das letzte Semester an der Universität Wien mit diesem Thema  beschäftigt. Wie kreieren Kulturschaffende während der Corona-Krise? Welche Veränderungen und Herausforderungen haben im letzten Jahr ihren Schaffensprozess gestaltet  und welches Selbstverständnis lässt sich bei Kulturschaffenden während der Corona-Krise  erkennen? Um diese Fragen beantworten zu können, haben wir sieben Kulturschaffende zu diesem Thema interviewt. Diese Kulturschaffenden sind: Kabarettisten-Duo Marecek & Musner sowie Kabarettist Nikorrekt, die Band Culk, Musiker Patrick Wurzwallner und Schauspieler*innen Lena Schäfer, Elias Hönle und Alexander Schrei. Warum gerade diese Kulturschaffenden? Wir haben uns bei unserer Forschung am Begriff der Populärkultur orientiert. Dabei haben wir diesen vom Begriff der Hochkultur abgegrenzt und wollten explizit Kulturschaffende interviewen, die freischaffend sind, deren Kunst aber gleichzeitig ihr Lebensmittelpunkt ist. Welche spannenden Antworten wir bei unserer Forschung bekommen haben, könnt ihr im weiteren Text nachlesen.

Kultur... zwischen Massen und Eliten

Auf die Frage „Was bedeutet Kultur“ gibt es zahllose Antworten und keine Definition muss  gänzlich richtig oder falsch sein. Das spiegelt sich auch in den Antworten unserer Kulturschaffenden wider; trotzdem ließ sich ein gewisser Konsens ausmachen: Kultur sei etwas  Gemeinsames, etwas Gemeinschaftliches, das uns Menschen verbindet. [1] Es sei ein Ort, an dem wir uns nicht trotz, sondern auch wegen unserer  Unterschiede einig werden können. Egal wo und wie wir aufgewachsen sind, wir können die gleiche Musik hören, die gleiche Kunst schätzen usw. Dieses Kulturverständnis hat etwas sehr egalisierendes und nimmt Abstand von der normativ geprägten Unterscheidung in Hoch- und Populärkultur. Diese Differenzierung geht bereits auf das 18. Jahrhundert zurück, die damaligen  Eliten beanspruchten die Hochkultur für sich als Zeichen ihres höheren sozialen Standes, aber  auch um eine inhaltliche, ästhetische Überlegenheit ihrer Kunst und Kultur zu suggerieren. [2] Diese Vorstellung war außerdem wichtig, um die Trennung der sozialen  Schichten weiterhin erhalten zu können. Hochkultur wurde gleichzeitig zur Machtlegitimation  genutzt und umgekehrt die breite Masse erfolgreich von dieser, fern gehalten.  

(Pop)Kultur für alle...

Was genau macht nun die Populärkultur aus? Dem Kulturwissenschaftler Kaspar Maase zufolge, ist sie zum einen gekennzeichnet durch Austausch und aktive Einbindung des Publikums und zum anderen lässt sich Populärkultur keinem Milieu zuordnen. Sie ist offen, für alle da, egal welcher sozialen Schicht man angehört. [3] Wie eingangs schon erwähnt, schlagen die Antworten der Kulturschaffenden eine sehr ähnliche Richtung ein. Kultur sei für alle da und vermittle zwischen den Menschen. Das Publikum werde nicht mehr als Teil eines Milieus, sondern als Gesamtheit eines kulturell interessierten Kollektivs wahrgenommen. Unseren Interviewpartner*innen zufolge ist Populärkultur außerdem gegenwärtig stark geprägt von Internet und Globalisierung. Kaum jemand könne sich mehr popkulturellen Trends und Phänomenen entziehen, weshalb man in diesem Zusammenhang ja auch von  „Massenkultur“ spricht. Eine klare Vorreiterrolle nehme dabei die USA ein, deren Popkultur weltweit verbreitet sei, während z.B. österreichische Popkultur international nahezu keine  Verbreitung finde. [4]

Die von uns befragten Kulturschaffenden sehen es als essentiell an, etwas aktiv zur Kultur  beizutragen und diese mitzugestalten. Dies passiert auf unterschiedlichsten Wegen, wichtiges Ziel ist es aber andere dabei auf emotionaler Ebene zu erreichen.

Popkulturschaffende haben heutzutage oftmals den Anspruch, kritische Diskurse zu eröffnen und über ihre Plattformen zu fördern. Die Band Culk spricht davon, dass man als Kulturschaffender „nicht immer nur zu einer Wohlfühlgesellschaft beiträgt.“ [5]

Ein Schaffensprozess auf Abwegen...

Das Bild zeigt ein Plakat der Firma KULTURFORMAT und ihrer coronabedingten Kampagne #kulturkenntkeinekrise

Die vielen verschiedenen Antworten unserer Interviewpartner*innen über Rahmenbedingungen ihres künstlerischen Schaffensprozesses zeigen, dass dieser eine subjektive, individuelle Erfahrung ist. Für viele Kulturschaffende jedoch passiert der Prozess der Inspiration dabei analog. Beim Beobachten des Alltagsgeschehens auf den Straßen, beim direkten Austausch mit Freunden. Diese und viele andere, selbstverständlich scheinenden Dinge sind seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie nicht mehr möglich. Der vermehrte Aufenthalt im abgegrenzten Raum kann dazu führen, dass der Inspiration nicht mehr genug Platz gegeben werden kann. Schließlich schreibt ja angeblich das Leben die besten Geschichten. Mit der Einschränkung des öffentlichen Lebens geht also eine der größten Inspirationsquellen Kulturschaffender verloren. „Ich darf nicht schaffen“ sagt Musiker Patrick Wurzwallner, dessen Kreativitätsgrundlage der Austausch mit anderen Künstlerinnen und Künstlern sei. Künstlerischer Austausch sei dabei als Fundament des Schaffensprozesses zu verstehen und würde über den Austausch von Energien und gemeinsamer Reflexion definiert werden, was „offline“ sehr viel besser funktioniere. Technische Rahmenbedingungen und die räumliche Trennung erschwere bei einer „online session“ die meist fruchtbare Korrelation. Der Dialog mit Kollegen könne dabei im virtuellen Raum durchaus gegeben sein; der eigentliche Schaffensprozess passiere jedoch allein. [6] Trotzdem, die gesteigerte Notwendigkeit einer Online-Präsenz während der  Corona-Krise hat dazu geführt, dass man sich als Kulturschaffender zwangsläufig neuen Herausforderungen stellen müsse. [7] „Man macht das Gleiche wie sonst aber mit noch weniger Chancen“ erkennt freischaffende Schauspielerin Lena Schäfer. Freischaffende Künstlerinnen und Künstler seien bereits vor der  Corona-Krise auf eine eigenständige Organisation angewiesen gewesen. Der Entzug eines reichhaltigen Angebots an Aufträgen, welcher während der Corona-Krise zeitweise für einen Stillstand in der Kulturszene sorgte, sei somit viel frustrierender für freie Kulturschaffende. [8] Im Online-Bereich ändere sich zudem nicht nur die Darstellung des  Kulturschaffenden, sondern auch seine Beziehung zum Produkt per se. Die lange Lebensdauer von hochgeladenen Videos auf Plattformen, wie zum Beispiel „YouTube“ könne einen Prozess der bewussten oder unbewussten Selbstzensur einleiten. Ein analoger Auftritt lasse mehr Platz für Fehler, da sie nicht wiederholt werden müssen. Passiere ein Fehler bei einem  aufgezeichneten Livestream, könne man diesen nicht wieder rückgängig machen. [9]

Die Kultur und ihr Publikum ... Symbiose Interruptus

Das Bild zeigt die Kampagne #kulturkenntkeinekrise von der Firma KULTURFORMAT

Kennt ihr das Bild vom Eisberg? Die Spitze ragt heraus, lässt aber kaum das riesige Gebilde unter Wasser erahnen. Die Spitze ist das Lachen, Klatschen, Tanzen, der Enthusiasmus während einer guten Vorstellung, eines Kabaretts oder eines Live-Konzerts. Diese Verhaltensnormen machen einen großen Teil des Kulturerlebnisses aus. Sie sind der verbale und non-verbale Ausdruck eines gelungenen Konzertbesuchs, eines Kabarettbesuchs oder der Darbietung eines Schauspiels. Mit der räumlichen Trennung kam das gesteigerte Bewusstsein für die fast schon symbiotische Verbindung von Publikum und Kulturschaffenden und der Erkenntnis, dass die erwähnten Verhaltensnormen mehr bargen als eingangs angenommen wurde. Was meinen unsere Interviewpartner*innen damit? Woran lässt sich so eine Verbindung ablesen und warum kann ein exklusiv digitaler Austausch nicht funktionieren?

Man könnte meinen, dass das Kulturprodukt als Endpunkt eines langwierigen Schaffensprozesses sein Ende auf der Bühne vor Publikum findet. Dass die Reaktion des Publikums das ‚Schlagobershäubchen‘ auf der fertigen Sachertorte sei. Dabei unterschätzt der  Laie die inhärente Verbindung zwischen diesen zwei Einheiten und verkennt eine Dynamik, die grundlegend durch die Verlagerung in den virtuellen Raum gestört wurde. Unsere Interviewpartner*innen verweisen verschiedentlich darauf, dass Musik, Kabarett und  Schauspiel das Publikum brauchen und regelrecht vom Publikum leben. Gemeinsames Erleben erzeugt Stimmungen und Energien, eine Form der Kommunikation zwischen Kulturschaffenden und Publikum, welche von ersteren übernommen und in Inhalt, Form und Weise des Auftritts übersetzt werde. Der virtuelle Raum sei ein bloßes „Surrogat“, eine „Ersatzlösung“ [10] oder eine „digitale Halbalternative“. [11] Es sei nur eine Alternative, welche die der Kultur inhärenten Dynamiken „künstlich am Leben erhalten“ [12] soll. Kommuniziert wird fortan unter dem „Deckmantel der Anonymität“ [13] in der Kommentarleiste. Dem Publikum wird die  Möglichkeit genommen, Kulturschaffenden Wertschätzung in verbaler und non-verbaler Form direkt zu vermitteln. Die Künstlichkeit dieses Umstandes drückt sich in Beschreibungen wie  „pervers“ oder „komisch“ [14] aus. Kulturschaffenden wurde einmal mehr die essentielle Verbindung mit dem Publikum bewusst, einem Umstand, der sich in Aussagen wie „Auftritte vor dem Nichts“ [15] oder „Es hat sich nicht richtig angefühlt“ [16] festmachen lässt.

Online zu spielen, zu musizieren oder zu persiflieren sei zwar möglich, aber nicht praktikabel, wird von unterschiedlichen Seiten betont. An einer Häufung von digitalen Nachrichten von Seiten des Publikums, zeigt sich, laut der Band Culk, dass das Bedürfnis nach einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit Kultur nicht nur ein visuelles Erleben, sondern auch eine physische Anwesenheit voraussetzen müsse.

Der digitale Raum soll hier nicht grundsätzlich verschmäht werden. Anhand der Interviews  zeigt sich, dass einigen Kulturschaffenden in der Corona-Krise einmal mehr bewusst geworden  sei, dass die Digitalisierung einen prominenten Teil in der Art und Weise der Darbietung ihrer  Kunst eingenommen habe. Die innovative Gestaltung des virtuellen Raums ermöglicht vielen Kulturschaffenden eine Steigerung ihrer Reichweite sowie eine zusätzliche Generierung an  potenziellem Publikum.

Gesellschaftlicher Beitrag auf den zweiten Blick

Wir konsumieren Kunst und Kultur aus Interesse am Schönen und Kreativen, als Ausgleich zum sonst strukturierten Alltag. Ja, weil Kultur eben auch unterhält. Den Beitrag der Kultur der reinen Unterhaltung zuzuschreiben wäre allerdings naiv. Als Trojanisches Pferd verbirgt sie  viel mehr. Unsere Interviews zeigen, dass Populärkulturschaffende sich primär mit dem Leben  auseinandersetzen. Dem Schönen, dem Schirchen und dem Verborgenen. Sie biete dem Leben eine Bühne und verlange vom Publikum im Gegenzug die Auseinandersetzung mit eben diesem. Kultur könne Einblicke in andere Kulturen schaffen [17] und in einer demokratischen Gesellschaft der freien Meinungsäußerung den Hut  aufsetzen. [18] Je nach kultureller Ausrichtung wählt  der Kulturschaffende sein Instrument. Satirische Stilmittel wie Übertreibung und Sarkasmus  bieten dem Kabarettisten Nikorrekt die Möglichkeit, das Publikum dazu zu bewegen,  gesellschaftspolitische Umstände zu hinterfragen, Denkschritte anzuregen und sich beim  Lachen über moralisch verwerfliche Haltungen ertappen lassen. [19] Musik, Theater und Bühne verleiten zum Austausch, zum Führen eines Diskurses [20] mit sich selbst, mit dem Inhalt und mit der dargebotenen Kunst an  sich. Kultur sei ein Teil unseres innersten Selbst. Wir wurden seit Monaten nicht mehr gefüttert  und einer digitalen Diät unterzogen. Dabei müsse Kultur keinen gesellschaftlichen Beitrag  haben, „man müsse es ihr nicht von den Lippen ablesen können“ [21], aber es passiert halt.

Interviewfragen

  • Was bedeutet Kultur für dich?
  • Welchen Stellenwert hat die Populärkultur in Österreich, deiner Meinung nach?
  • Wie hat die Corona-Krise die Rahmenbedingungen deines künstlerischen Schaffens beeinflusst?
  • Wie hat die Corona-Krise die Wechselwirkung Künstler - Publikum beeinflusst?
  • Welchen Beitrag leistest du mit deiner Kunst in der österreichischen Gesellschaft?

Verweise

  • [1] Wurzwallner, Schrei, Hönle, Nikorrekt, Culk, Interviews von 06. – 10. Jänner 2021
  • [2] Aleida Assmann, Introduction to Cultural Studies. Topics, Concepts, Issues (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 36, Berlin 2012) S. 14
  • [3] Kaspar Maase, Populärkulturforschung. Eine Einführung (Edition Kulturwissenschaft 1, 2019) S. 76
  • [4] Schäfer, Schrei, Culk, Nikorrekt, Interviews von 06. – 10. Jänner 2021
  • [5] Band Culk, Interview, 08. Jänner 2021
  • [6] Patrick Wurzwallner, Interview, 06. Jänner 2021
  • [7] Schäfer, Hönle, Schrei, Interviews, 10. Jänner 2021
  • [8] Schäfer, Hönle, Schrei, Interviews, 10. Jänner 2021
  • [9] Nikorrekt, Interview, 07. Jänner 2021
  • [10] Patrick Wurzwallner, Interview, 06. Jänner 2021
  • [11] Nikorrekt, Interview, 07. Jänner 2021
  • [12] Patrick Wurzwallner, Interview, 06. Jänner 2021
  • [13] Nikorrekt, Interview, 07. Jänner 2021
  • [14] Alexander Schrei, Interview, 10. Jänner 2021
  • [15] Marecek & Musner, Interview, 06. Jänner 2021
  • [16] Alexander Schrei, Interview, 10. Jänner 2021
  • [17] Elias Hönle, Interview, 09. Jänner 2021
  • [18] Alexander Schrei, Interview, 10. Jänner 2021
  • [19] Nikorrekt, Interview, 07. Jänner 2021
  • [20] Band Culk, Interview, 08. Jänner 2021
  • [21] Band Culk, Interview, 08. Jänner 2021

Auswahlbibliographie

  • Aleida Assmann, Introduction to Cultural Studies. Topics, Concepts, Issues (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik 36, Berlin 2012)
  • Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse (Köln/Wien 1996).
  • Terry Eagleton, Was ist Kultur? Eine Einführung (München 2009)
  • Christa Hoffmann-Riem, Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie. Der Datengewinn. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32/2 (1980) 339-372.
  • Herbert Hofreiter, Kulturnation Österreich. Anmerkungen zu Image, Identität, Sport, Film und Literatur. In: Modern Austrian Literature 32/4 (1999) 19-39.
  • Getraud Koch, Empirische Kulturanalyse in digitalisierten Lebenswelten. In: Zeitschrift für Volkskunde 111, 2 (2015) 179-200
  • Kaspar Maase, Populärkulturforschung: Eine Einführung (Edition Kulturwirtschaft Band 190, Bielefeld 2019)
  • Ansgar Nünning, Vielfalt der Kulturbegriffe. In Bundeszentrale für politische Bildung, 23.07.2009, online unter: <a href="https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/kulturelle-bildung/59917/kulturbegriffe?p=all" target="_blank">www.bpb.de/gesellschaft/bildung/kulturelle-bildung/59917/kulturbegriffe</a> (16.12.2020)
  • Hans Pitlik, Oliver Fritz, Gerhard Streicher, Ökonomische Bedeutung der Kulturwirtschaft und ihre Betroffenheit in der COVID-19-Krise, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Monographien, 02.07.2020, online unter <a href="https://www.wifo.ac.at/publikationen/studien?detail-view=yes&amp;publikation_id=66154" target="_blank">www.wifo.ac.at/publikationen/studien</a> (22.01.2021)